Iwan Patanen Über politische Verbrechen
im landwirtschaftlichen Bezirk von Kusemkino: Den großen politischen Repressionen gegenüber den Inkeris in unserem Bezirk ging die Kollektivierung anfangs der 30er Jahre voran. Obgleich die Leute gezwungen wurden, sich zu landwirtschaftlichen Kolchosen zu vereinigen, versuchten sie dort unter neuen Bedingungen, sich ein besseres Leben zu schaffen, weil sie an harte Feldarbeit gewöhnt waren. Die Arretierungen begannen, ihre Hoffnung, ihre Pläne endeten aus Furcht, in die Ränge von "kulaks" [das Wort kulak "Faust" bedeutet im sowjetischen Jargon: "ein reicher Bauern-Ausbeuter bzw. -Blutsauger"], "Spionen" oder ähnlichen "Volksfeinden ", permanent erfunden vom N.K.V.D., eingeordnet zu werden. Ich war zu jener Zeit ein Schuljunge und erinnere mich, dass bis 1934 eine bemerkenswert ruhige Periode vorherrschte, falls man nicht erwähnt, dass einige Männer als Spione arretiert wurden. So wurde 1933 Matthias Venno aus dem Dorf Groß Kusemkino wegen frisierter (betrügerischer) Denunziation von Ferdinand Simson arretiert. Simson war ein Kollaborateur der Leute vom Grenzschutz und deren Agent, welcher später, nach 1941, ein Strafvollstrecker von Nazikommandos wurde. Wegen dieser Denunziation verbrachte M. Venno 12 Jahre im Gefängnis und gelangte erst 1957, nach Stalins Tod, nach Hause zurück. M. Venno schien im gesamten Bezirk der einzige zu sein, der Stalins Konzentrationslager überlebte. Er wäre 1941 erschossen worden, im Fall, dass die Deutschen nicht von Moskau vertrieben worden wären. Er erwartete seine Erschießung zusammen mit einer Gruppe seiner Stationskameraden, aber der Auftrag von Moskau kam nicht. Dennoch war die Situation an der Front nicht der einzige Grund von Massenerschießungen. Weitere Gründe konnten auch die Feiern der Jahrestage der Revolution oder die Geburtstage Stalins und Lenins sein. Die besagten Arreste vor 1934 waren nur eine
"Kleiderprobe" von Massenrepressionen, die mit dem Mord Kirows am 1.
Dezember 1934 begannen. Alle Leute, die an jenem Tag Leningrad besucht hatten,
wurden als Komplizen des Mörders festgenommen. Die besten Kolchosenbauern, die
leistungsfähigsten Männer in den Dörfern wurden unter der Anschuldigung der
Spionage, Sabotage und konterrevolutionären Aktivität eingesperrt. Sie konnten
nicht wissen, dass ihr Schicksal durch den Auftrag von Moskau prädestiniert
war, welcher konkrete Zahlen von Opfern nannte. Diese Zahlen waren: 4000, die
erschossen werden sollten, 8000, die in Konzentrationslager gesteckt werden
sollten, (vgl. E. Lunin, An den Metzgern klebt kein Blut (in Russisch).
Sankt-Peterburg 1996, 12). Nach dem Beladen der Karren bewegte sich ihre Reihe auf den
Bahnhof von Preobraschenka zu. Das ganze Dorf sah diesen Menschenzug. Die Leute
schrieen und beteten. Niemand wusste, wohin diese "Kulaks"
transportiert wurden. Die Wachen trieben die Dorfbewohner, die sich anschlossen,
weg. Am Bahnhof wartete schon ein Güterzug. Die Oberhäupter der Familien,
welche früher eingesperrt worden waren, aber nicht zum Tod verurteilt, waren
auch dorthin gebracht worden aus dem "Kresty"-Gefängnis. Nach der
Abfahrt des Zugs wurde niemand über seinen Bestimmungsort informiert. Die
Verwandten erfuhren dieses erst nach einem Monat, aus den ersten empfangenen
Briefen. Es schien, dass die Deportierten in Tadjikistan waren. Viele Ingrier
starben unterwegs, nicht weniger kamen wegen der ungewöhnlichen asiatischen
Hitze um. Sie wurden alle verurteilt. Aber gerade dieses war das Ziel von
Moskau. Die Ausrottung unseres Volks begann unter dem Vorwand der
Liquidierung von "Kulaks" und anderen "Volksfeinden".
Arretierungen fanden normalerweise zur Zeit der Aussaat statt, wenn sich alle
Leute für die Feldarbeit sammelten, und es daher einfach war, sie zu ergreifen.
Die Zahl von Schülern in meiner Schule wurde augenscheinlich geringer. Der
Direktor ordnete an, Klassen zusammenzulegen. Wenn wir zur Schule gingen, wurden
wir durch den düsteren Anblick leerer Häuser erschreckt, deren Türen im Wind
schlugen. Dieses dauerte nicht lange. Bald wurden neue Menschen dort
angesiedelt. Sie waren die ehemaligen Bewohner des Dorfes Mertvitsa an der
Grenze zu Estland. Das Dorf wurde in einer Nacht liquidiert. Einige Häuser
wurden in andere Orte versetzt, aber die Mehrzahl demolierte man, um davon
Brennholz zu machen. Solch war der Volksmord der Inkeris, die von Kreml-"Strategen" verurteilt wurden, als Nation der Vernichtung anheim zu fallen. Ihre Reste mussten im Auftrag zerstreut werden, sogar ihr Name würde nicht mehr erwähnt werden und später, nach vielen Jahren, konnten "akademische" Theorien über ihre "Assimilation" mit der ethnisch-russischen Nation geschaffen werden [vgl. mehr als 150 Jahre des Volksmords der Tschetschenen auf ihrem eigenen Territorium, der in unseren "demokratischen" Tagen zu seinem schrecklichen Ende kommt - Herausgeber]. Die Menschen unserer Region wurden auch im folgenden Jahr 1939 ergriffen. Ich kenne nur 2 Personen, die zurückkamen. Die erste war Wassili Eustafjew aus dem Dorf Ostrov, geboren 1886. Er wurde 1938 inhaftiert und verbrachte 2 Jahre und 2 Monate im Gefängnis von "Kresty". Er kam nach Hause, unbarmherzig geschlagen, nach schrecklichen Folterungen. Er hielt aus, und unterzeichnete die absurden Anklagen nicht. Er hat ein Entlassungspapier. Die andere war Wassili Wassiliew vom Dorf Kurowitzy (wirklicher Name Kukkusi), welcher auch 2 Jahre und 2 Monate in "Kresty" verbrachte. Die Verluste der Inkeris, die von diesen Verbrechen herrührten, können zahlenmäßig erfasst werden, indem man die Resultate der Zählung von 1926 und von 1939 vergleicht. 1926 gab es 17000 Inkeris, aber 1939 nur 7700 (vgl. Finno-Ugrische Regionen von Russland in Ziffern (auf Russisch). Staatlich-statistisches Komitee der Republik Komi. Syktyvkar 1996, 25). Der Vergleich zeigt, dass die Zahl der Inkeris auf 9300 Personen zusammenschmolz, d.h. mehr als zweimal innerhalb 13 Jahre. Dieses war eine großartige Arbeit des Leningrader N.K.V.Ds. Ende des 30er Jahre begann die Massenausrottung der Juden. Die schrecklichen Verbrechen der Nazis sind der ganzen Welt bekannt, ihre Hauptverbrecher wurden in Nürnberg gehängt. Eine Menge Bücher werden über die Leiden der Juden geschrieben, eine Menge Filme gedreht. Konzentrationslager, in denen die Juden ermordet wurden, wurden in Museen umgewandelt. Dennoch waren die Nazis nur Schüler der Bolschewiken, die das System der Massenvernichtung früher erfunden hatten. Als Hitler erklärte, er habe "die Endlösung der Judenfrage" gefunden, wiederholte er nur die Bolschewiken, welche "die ingrische Frage" bereits anfangs der 30er "gelöst hatten" unter der "Tarnkappe" der Kollektivierung. 13 % aller Ingrier [Inkeris, Woten, Finnen von Ingermanland], d.h. 18000, wurden zu Konzentrationslagern oder zur Knochenarbeit auf die Kola-Halbinsel, nach Mittelasien oder Sibirien transportiert, wo die meisten von ihnen umkamen. [Natürlich entsprechen diese Ziffern nicht denen der Juden, weil die Juden viel zahlreicher als die Inkeris waren. Dennoch begann die Gesamtausrottung der Juden nur nach der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Vor diesem Datum waren die Verluste der Juden und der Inkeris mindestens vergleichbar - Herausgeber]. Auf diese Art lösten zwei totalitäre Staaten ihre "nationalen Fragen" [Russland, der offizielle Nachfolger der UdSSR, setzt diese "Lösung" in Itschkeria bis heute fort - Herausgeber]. Die Ausrottung der Ingrier hörte auf mit dem Angriff der
UdSSR gegen Finnland 1939-1940. [Zuerst wurde Finland vorgeschlagen, den
"Pakt der gegenseitigen Unterstützung" zu unterzeichnen, ähnlich
dem, was man den baltischen Staaten vorgeschlagen hatte, als Vorspiel zu ihrer
Annexion; gleichzeitig wurden den Finnen ein unverschämter Austausch der
Territorien vorgeschlagen - Herausgeber]. Die Finnen, denen bekannt war, was
die Sowjets mit ihren Brüdern in Ingermanland getan hatten, widerstanden wütend.
Die ganze Welt verurteilte diesen Angriff, die UdSSR wurde aus der Liga der
Nationen herausgeworfen. Es waren alleine die Engländer, die wagten, Stalin zu
drohen, dass, falls er die Offensive nicht stoppte, sie die Ölwerke Bakus von
ihren irakischen Basen aus Irak bombardieren würden. Die Engländer kämpften
zu dieser Zeit heroisch gegen Deutschland und Italien. Stalin zog den Frieden
mit Finnland vor, während sein "Befreiungskrieg" in Europa
vorbereitet wurde. [Tatsächlich waren unerwartet harte Verluste der
Bolschewiken in Finnland auch mit ein Grund - Herausgeber]. So kam es zu
einem kurzen Frieden, aber das ganze finnische Karelien wurde von der UdSSR
besetzt. Andererseits war Hitler von den Plänen seines Partners informiert,
dass die Division von Polen Deutschland von hinten angreifen nehmen würde,
sobald dieses La Manche zwingen würde. Daher griff er als erster an. Auf diese
Weise begann der Krieg auf dem Territorium der UdSSR im Juni 1941.
Was war das Schicksal der Inkeris in ihrer Heimat nach dem Krieg? Die Familien
kehrten von den Orten der Evakuierung zurück, aber sie wurden von der Miliz auf
dem Bahnhof von Ust-Luga erwartet. Dieses war der Punkt der Filtration.
Nach der Überprüfung der persönlichen Dokumente wurden die Familien, in denen
man "Feinde des Volks" gefunden hatte, abgesondert und in die inneren
Regionen von Russland geschickt. Weiterhin wurde ein Vermerk bei denen, die an
der Front gekämpft hatten, notwendig. Nicht alle militärischen Dienstleute
waren zu jener Zeit demobilisiert worden, daher brauchte man einen Vermerk von
ihrem militärischen Dienstort, damit einer Familie erlaubt werden konnte,
nachhause zu gehen. Wenn eine Familie einen Verwandten hatte, der während des
Krieges in deutscher Gefangenschaft gewesen war, hatten alle übrigen Mitglieder
der Familie keine Hoffnung, ihr Zuhause wiederzusehen. Es war sehr schwierig für
die, welche während des Krieges nach Finnland oder Deutschland verbannt worden
waren, nach Hause zurückzukehren. So sah die Situation Ende 1945 aus, aber sie
dauerte auch in den Folgejahren an. Ein Sowchos "Der fortgeschrittene Arbeiter von
Ropscha" war nach dem Krieg eingerichtet worden. Er versah die Bewohner mit
existenziell notwendigen Mitteln. Die ruinierte Landwirtschaft wurde wieder in
Gang gesetzt. So ein Normalleben war für Stalin nicht wünschenswert. Am 9. Mai
1947 kam der Leiter der Passabteilung der Ruchji Miliz-Sektion in Kusemkino an.
Aktivisten mit roten Bändern auf ihren Ärmeln wurden ausgeschickt, um vorm
Dorfsowjet Leute zusammenzutrommeln. Die Leute zeigten ihre Pässe vor, aber ein
Milizmann strich den Stempel der Registrierung im Pass durch und erklärte
seinem Inhaber, dass er das Verwaltungsterritorium des Sowjets innerhalb von 24
Stunden verlassen müsse. Als man fragte, "wo kann ich dann leben?",
lautete die Antwort: "wo Sie wünschen, aber nicht im Grenzgebiet". Es
wurde die Erlaubnis erteilt, in der Gegend vom Kurowitzy-Sowjet zu leben, weil
dort bereits kein Grenzgebiet mehr gewesen war. Ein
Kriegsteilnehmer hatte das Recht, in seinem Haus zu bleiben, aber seine Familie
musste ausziehen. Herangezogen wurden sogar die Familien der gefallenen
militärischen Dienstleute. Um weiterhin in ihrem Haus wohnen zu können,
mussten solche Familien eine Bescheinigung vorweisen. Die Familien von Maria
Iwanowa aus Groß-Kusemkino, Elsa Michailowa aus Struppovo, Elsa
Lobsanowa aus Ropscha und von vielen anderen, welche die Brotverdiener, ihre
Ehemänner, im Krieg verloren hatten, wurden verbannt. Dasselbe widerfuhr E.Romanowa,
E.Fjodorowa, E.Minaewa, die ihre Söhne an der Front verloren
hatten. Eine Menge ähnlicher Beispiele könnte aufgeführt werden. Die Zeit verging. Irgendwo ferne in Moskau näherte sich
das Ende von Stalin. Wir wussten nichts davon. 1952 stellte ich einen Antrag an
die Regierung, um die Erlaubnis zu erhalten, nach Hause zurückzukehren.
Unerwartet kam die positive Antwort. Dann folgten andere Deportierte unserem
Beispiel. Nachdem Stalin tot war, willigten die Behörden auf alle unsere
Bittgesuche ein. Unsere Landsleute aus anderen Regionen begannen, nach 1956 zurückzukehren.
Die Familien der "Kulaks", die nach Tadschikistan und Kasachstan
verbannt worden waren, wurden freigelassen. Der Schluss kann gezogen werden, dass die Reihenfolge der
Massenrepressionen im landwirtschaftlichen Bezirk von Kusemkino die folgende
war: Der Hauptort der Massenbeerdigungen der Erschossenen war die Heide von Lewaschowo nahe Leningrad. Seit 1990 begann die Zeitung "Wetschernij Leningrad", Die Martyrologie aller dort Begrabenen zu veröffentlichen. Hier sind einige unserer Landsleute aus dieser Liste aufgeführt: Wassili SIDOROW, geb. 1890, aus Groß-Kusemkino, Nichtparteimitglied, ein Inkeri. Verhaftet am 6. August 1937, durch ein spezielles Dreierkommando des U.N.K.W.D. aus der Leningrader Region zum Tode verurteilt wegen konterrevolutionärer Aktivitäten mit dem Ziel der Subversion des sowjetischen Systems (gemäß Artikel 58-10 des Strafcodes der RFSR [Russische Föderative Sozialistische Republik]) am 28. August 1937, hingerichtet am 31. August 1937 mittels Todesschuss; M. JAKONEN, geb. 1903, aus Groß-Kusemkino, ein Inkeri; Ivan ANDREEW, geb. 1900, aus Groß-Kusemkino, ein Russe, Mitglied der bolschewistischen Partei seit 1925, beschäftigt als Geschäftsmanager in Logi. Festgenommen am 17. Oktober 1937, Todesschuss am 18. November 1937; Alexis PUKKARI, geb. 1893, aus Struppovo. Festgenommen am 23. Februar 1938, Todesschuss am 5. Mai 1938; Alexander AHONEN, geb. 1883, aus Struppovo. Festgenommen am 10. Juni 1938, Todesschuss am 10. Oktober 1938. Das waren natürlich nicht alle Opfer, deren Weg in der Levaschowo Heide endete. Ein großes Denkmal für die Opfer der Repressionen wurde am 19. Juni 1995 in Groß-Kusemkino enthüllt. 34 Namen fanden sich darauf, aber 10 Namen wurden später hinzugefügt. Verwandte und Landsleute versammelten sich während der Einweihung, viele von ihnen weinten trotz der Jahrzehnte, die seit den Tragödien verflossen waren. Hier sind ihre Namen: I.T. AHONEN M.S. AHONEN I.P. DEMIDOW A.M. DANILOW V.F. EUSTAFJEW I.N. EUSTAFJEW K.G. JEMELJANOW A.F. IVANOW A.F. ISAKOW L.Y. KAPRALOW I.N. KIRILLOW A.K. KOORA D.H. LARIONOW A.E. LARIONOW M.S. LUKIN V.T. LUTS P.Z. NIKOLAEW A.E. OLAVI A.I. PUKKARI S.M. PUKKARI A.D. SARNE A.I. SIPPO I.A. STÜF S.I. AHONEN E.S. AHONEN M.S. AHONEN A.S. AHONEN P.I. AHONEN M.P. AHONEN A.P. AHONEN V.A. AHONEN I.I. ANDREEW M.A. WASSILIEW M.M. ROSENBERG S.I. KALININ M.I. PETROW F.A. STEPANOW D.E. PYCHTIN S.P. FJODOROW P.S. FJODOROW A.B. FILATOW P.I. SCHEPELEW I.O. JAKONEN Lasst die in unserem Gedächtnis bleiben, welche diesem Leben vorzeitig entrissen worden sind. |