KUOKKALA

Aus den Erinnerungen Professor Dmitri Lichatschows

Lichatschow D. Anmerkungen und Beobachtungen: Aus den Notizbüchern verschiedener Jahre (In Russisch). Sowjetischer Schriftsteller: Leningrad 1989, 48-61

 

... Was für eine überraschende Sache ist die Verbindung zwischen den Epochen! Wie hätte ich ahnen können, als ich, zusammen mit meinem Kindermädchen, auf dem "Imperial", in einer Pferde-Straßenbahn, Platz nahm, um nach Colomna zu fahren, [eine Gegend von Sanct-Petersbourg zwischen der Englischen Straße, dem Fluss Mja, der Katharinehof-Straße und dem Theaterplatz gelegen], wie hätte ich damals wissen können, dass es möglich war, an der Haltestelle gegenüber der St. Nikolaus-Kathedrale einen flüchtigen Blick durch die Fenster der Wohnung von Benois hinein ins Innere zu werfen. Oder dass ich in die höhere Vorbereitungsklasse der Gymnasiums-Schule der Philanthropischen Gesellschaft gehen sollte, die Alexandre Benois auch besucht hatte. Oder dass ich danach auf das K. May-Gymnasium und die Realschule von Hirvisaari wechseln sollte, auf welche Alexandre Benois, lange vor mir, hinübergewechselt war. Oder dass mein Lieblingsplatz in Peterhof eine Seeterrasse von Monplaisir sein würde, die als der schönste Platz von dem nämlichen Alexandre Benois schon vor mir angesehen worden war. Oder dass ich viele Jahre später lange und unbeirrt seine Erinnerungen in der Reihe "Literarische Denkmäler" veröffentlichen und mit seiner Tochter Anna korrespondieren würde.

Dies ist nicht alles. A. Benois wohnte 1899 in London am Boarding Place auf der Montague Straße, jedoch war dies möglicherweise derselbe Platz, an dem ich 1967 wohnte. Hätte ich dieses gewusst, ganz anders wäre meine Einstellung zu meinem alten englischen Gasthaus gewesen, mit der Bibel und den Detektivromanen auf einem kleinen Regal überm Bett und mit einem, wenngleich durch Gas modernisierten, offnen Kamin. Dies war das Gasthaus, in dem aller Wahrscheinlichkeit nach auch Wladimir Solowjow wohnte, als er hier herkam um am britischen Museum zu arbeiten.

Alles ist so nah, am gleichen Fleck. Dies gilt sogar für den geschichtlichen Raum. Sah A. Benois aber nicht in seiner Kindheit einen kleinen hundert Jahre alten Mann, ehemaliger Page von Katharine II, der in einem der Dienst-Gebäude des Peterhof-Palais gelebt hatte?

Diese Verbindungen sind unbeträchtlich, sie sind schwach, doch sie bestehen und überraschen.

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Eine Fünfzimmer-Wohnung kostete die Hälfte von meines Vaters Gehalt. Im Frühjahr zogen wir frühzeitig in ein Land-Haus (Datscha). Dann lösten wir unsere Wohnung auf, um im Herbst eine andere in der gleichen Umgebung des Marientheaters zu mieten. Dies war der Weg für unsere Familie, Geld zu sparen.

Gewöhnlich verbrachten wir die Sommer in Kuokkala jenseits der finnischen Grenze [die Grenze gibt es nicht mehr seit dem sowjetischen Angriff von 1939 – der Herausgeber]. Die Häuschen dort waren preiswert und viele Intellektuelle von Sanct-Petersbourg nutzten diesen Umstand. Deshalb ist meine Kindheit mit Kuokkala verknüpft, das heute Repino genannt wird.

Die Bucht von Kuokkala liegt nördlich des finnischen Golfs, außerhalb der sogenannten Pfütze des Marquis – ein Teil zwischen Sanct-Petersbourg und Kronstadt. Jener war der Marquis de Traverset, der zu Beginn des 19. Jhs. gewöhnlich das Marinetraining dort anordnete.

C. Granhagen schreibt im Vade Mecum "Finland" über Kuokkala das Folgende:

Kuokkala (42 Kilometer von SPb). Der Bahnhof liegt 1 Werst vom Golf entfernt. Die Seite ist während der Sommersaison dicht von Gästen belegt. Neben zufriedenstellenden Bedingungen für die Ferienerholung gibt es einen ernsthaften Mangel dort. Das ist dies die Konzentration von Häusern und das Fehlen guter Wege. Die Wege nördlich der Eisenbahnlinie sind besonders schlecht. Die sandige Seite mit einem Kiefernwald ist als Genesungsort geeignet. Es sind dort Geschäfte vorhanden, eine Apotheke und sogar ein Theater. Die besten Häuschen liegen entlang der Meeresküste und sind kostspielig. Preiswertere Häuschen liegen nördlich des Bahnhofs. Viele von ihnen sind auch während der Winterjahreszeit belegt. Man findet dort eine orthodoxe Kirche. In den letzten Jahren der russischen Revolution (der Autor hat die Revolution des Jahres 1905 im Sinn), fanden dort Emigranten Schutz, die von der russischen Regierung verfolgt wurden. Dennoch arretierte sie die finnische Verwaltung und transportierte sie nach Sanct-Petersbourg, wie es das Gesetz von 1826 verlangte, nachdem eine Bombenfabrik in Haapala nicht weit von Kuokkala entfernt, entdeckt worden war.

Prominente aber nicht reiche Intellektuelle verbrachten den Sommer in Kuokkala. Zwei Häuschen wurden von der Adelsfamilie Annenkow belegt (ein hervorragender Maler, Juri Annenkow, entstammt dieser Familie). Ein Häuschen am Ufer gegenüber der Bucht von Kuokkala gehörte Alberto Puni, welcher Cellist im Marientheater und der Sohn eines Komponisten von Ballettmusik war. Alberto war auch Eigentümer eines Mietshauses in Sanct-Petersbourg – eines großen Gebäudes an der Kreuzung Gatschina-Straße – Große Straße der Petrograd-Seite. Sein Sohn wurde Maler in Frankreich. Bis zu seinem Lebensende liebte er es, Strände malen, die ihn an seine Kindheit erinnerten.

Wir warten auf unseren Vatter.
Mama sitzt auf einer Bank zusammen mit den Damen von Kuokkala, ich aber balanciere, wie üblich, auf einer Schiene. Die Gleise führen in die Unendlichkeit, nach Petersbourg. Von dort muss Vati kommen. Er wird gigantische Erdbeeren mitbringen oder etwas hübsches anderes, manchmal – ein Spielzeug: einen Reifen, eine Jacht mit einem Segel oder ein Dampfschiff (ich hatte es besonders gern, im Wasser zu spielen)
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Ich warte und sehe in die Ferne. Schließlich erscheint ein kleiner Humonoid: ein dickbäuchiger mit einem großen Kopf und einem Rock. Er raucht. Er entpuppt sich als Dampfmaschine. Der Dampfkessel ist sein Bauch. Der rauchende Kamin sein Kopf. Der sich abwärts weitende schützende Schirm ist sein Rock (die Dampfmaschine ist ein Lord und folglich ein Mann, was denn sonst).

Näher gekommen zischt sie auf fremde Weise (die russischen Dampfmaschinen brummen tief wie Dampfschiffe). Schließlich fährt sie heran, ihre Räder benutzend (eine dienliche Unterhaltung der Kinder in meinem fünfjährigen Alter ist, solch eine Dampfmaschine nachzuahmen und die Ellbogen wie Kolben zu bewegen).

Die Wagen folgen, einer nach dem anderen, die blauen, die grünen, die roten. Ich erinnere mich heute nicht mehr an ihre Bedeutung, aber sie war eine andere als bei den russischen Wagen. Mir scheint, die blauen Wagen waren die der ersten Klasse. Die finnischen Wachen in schwarzer Montur sind die ersten, die von den blauen Wagen aussteigen. Sie stehen an der Treppe, um den Passagieren beim Aussteigen behilflich zu sein. Vati taucht auf, er küsst Mama und erzählt, mit wem er gereist ist. Einmal zeigte man mir Baron Meyerhold in einem Wagenfenster. Er fuhr nach Terijoki weiter. In meinem Gedächtnis scheint er damals namentlich als Baron Eingang gefunden zu haben. Als Baron war er auch anderen Leuten bekannt. Von denen gab es Ingenieure, Offiziere, Maler. Die letzteren kamen mir vor, als seien sie eine besondere Spezies: Italiener, dunkelhaarig, Leiter von verschiedenartigen Unterhaltungen. Schließlich zerstreuen sich alle in finnischen zweirädrigen Kutschen in unterschiedliche Richtungen. Gibt es mehrere Passagiere, so steht der finnische Eigentümer auf der Achse und fährt mit der Gewandtheit eines Zirkusartisten. Geschwindigkeit ist das Wichtigste.

Da gab es das Gut "Die Penaten" von Ilia Repin auf der Grenze von Ollila (dem sowjetischen Solnetschnoe). Es war Korney Tschukowski, der ein Haus baute mit Hilfe Repins in der Nähe der Penaten.

Viele berühmte Persönlichkeiten traf ich auf der Hauptstraße von Kuokkala und im schönen Park der Schwestern Ridinger; diese Leute blieben vom Vade Mecum-Autor unerwähnt.

In den Abenden wanderten wir die Küste entlang durch wellengepeitschten nassen Sand oder auf einem festen Weg entlang der Häuserzäune auf der anderen Seite des Strandes.

Diese Zäune waren aus Holz, jeder war anders, jeder unterschied sich vom nächsten. Dort standen russische Straßenverkäufer, finnische Händler mit Milchprodukten. Die Zigeuner trommelten auf große Kessel und schrien: "Verzinnen! Löten!" und noch anderes, das ich schon vergessen habe. Ihre Werkstätten befanden sich im Lager jenseits der Grenze der Siedlung

Bei windlosem Wetter, besonders am morgen, konnte man vom Ufer aus etwas wie ein tief dröhnendes u-u-u, u-u-u, u-u-u hören. Das war die Stimme der größten Glocke der Isaaks-Kathedrale in Sanct-Petersbourg. Alle Glocken läuteten, aber nur die größte Glocke, die größte der Stadt, konnte man am Strand von Kuokkala vernehmen. Deshalb liefen wir zu bestimmten Zeiten, wenn der Strand nicht so voll von Leuten war, dorthin, um St. Isaak zu lauschen.

Aber der Strand surrte in der Hitze des Tages, surrte wie ein Bienenstock von den Stimmen der Kinder, vorwitzig und fröhlich, oder erschrocken beim Eintauchen ins Wasser, aber immer gedämpft durch das Meer und daher zerstreut und undeutlich. Ich höre und liebe diese Musik noch heute.

Kuokkala war ein Reich der Kinder. Die Leute gingen für den ganzen Tag ans Meer, nahmen Milch und Frühstück mit und übersprangen die übliche Essenszeit um 1 Uhr mittags. Spielsachen, Ruder, Rettungsringe, Sonnenschirme, Badeanzüge – all dieses wurde in speziellen Kabinen an der Küste, die manchmal in 2 oder sogar in 3 Reihen standen, aufbewahrt. Jede Familie hatte ihre eigene Kabine und gewöhnlich auch ihr eigenes Boot. Stege führten vom Strand zum Wasser, und da war es ein großes Vergnügen, von ihnen hinab zu springen. Von diesen Stegen gab es private wie auch öffentliche – gegen Bezahlung.

An den Sonntagen spielte ein Orchester irgendwo auf dem Strand. Das war eine Benefiz-Aufführung. Die Aufführungen fanden auch im Theater von Kuokkala statt. Ein kleines Orchester, bestehend aus vier entlassenen deutschen Soldaten, zog durch die Straßen von Kuokkala, sie machten an jedem Häuschen Halt und begannen aus Oira, einem populären finnischen Lied zu singen. Wenn man ihnen abwinkte, hörten sie auf, aber häufig baten wir sie, für sich aufzuschreiben, wenn sie zu einem Geburtstag kommen sollten, um zum Tanz aufzuspielen, sobald die Kinder von ringsum sich sammelten.

An den Geburtstagen und Namenstagen der Kinder gab es die obligatorische Beleuchtung mit chinesischen Laternen im Garten. Auch Feuerwerke waren unerlässlich. Diese kaufte man in der Stadtduma auf der Neva-Allee in Sanct-Petersbourg.

In Kuokkala konnte man Kinder sehen, die durch die Straße liefen um Wohltätigkeits-Abzeichen zu verkaufen. Dies geschah zuliebe den Schwindsüchtigen am Tag der Kamille, zuliebe den Verwundeten während des Krieges von 1914.

Die Interessen und Unterhaltungen der Kinder herrschten vor und die Erwachsenen nahmen bereitwillig an den Kinderspielen teil. Der kecke Geist hielt auch im örtlichen Theater Einzug, in welchem Teenagers Farce aufführten.

Weite Spaziergänge zusammen mit Erwachsenen fanden statt. Einmal im Sommer wanderten alle zum Kurort Sestroretsk (Systerbäck), um der Musik zu lauschen (Beginn war früh am Morgen). Häufiger wurde eine Mühle am Fluss Syster besucht. Junge Leute fuhren dort Fahrrad. "Die Mühle" schien mir der schönste Platz auf Erden zu sein.

In dieser Atmosphäre blühten die schelmische Malerei und die schelmische Literatur. Man kann die Arbeiten von Tschukowski, Repin, Puni und Annenkow nicht losgelöst davon verstehen. Sogar noch mehr: Kuokkala war Keimzelle des europäischen Avantgardismus, jedoch ist das ein tiefgründigeres Thema.

Alle möglichen Nationalitäten waren in Kuokkala vertreten. Finnische Bauern mieteten preiswerte Häuschen, ihre Jungs spielten mit uns Verstecken und andere lärmende Spiele. Petersbourg-Deutsche und -Franzosen, finnische Schweden, die italienische Familie Puni waren anwesend zusammen mit altem Alberto, der verschiedene Streite in die Welt setzte, in denen er stets als der größte russische Patriot erschien.

Fast alle, ausgenommen Neuankömmlinge, kannten einander, besuchten sich gegenseitig. Karitative Sammlungen wurden unternommen, öffentliche Kindergärten wurden geschaffen. Erwachsene und Kinder spielten zusammen Krockett, Reifen und das Knüttelspiel.

In diesem frohen Leben von Kuokkala wurden im August 1914 beunruhigende Nuancen spürbar. Für September erwartete man eine deutsche Landung. Finnische Polizisten verschalten die Türme der Häuschen (die Häuschen hatten häufig Aussichtstürme, um aufs Meer hinauszuschauen). Geräusche der Feuerübung waren von Kronstadt her hörbar - das Meer verlieh ihnen einen blubbernden Charakter, so als ob Champagnerflaschen geöffnet würden. Wir erblickten Lastkähne, die Schießscheiben vor die Forts schleppten.

Im Sommer 1915 tauchten polnische Flüchtlinge in Kuokkala auf. Wir, die Jungs, neckten sie mit den Worten tzo to bendzse "was wird geschehen!", die wir häufig in ihren besorgten Gesprächen gehört hatten. Einmal wandte sich uns eine schöne polnische Frau mit einem Lächeln zu und sagte sanft: "Oh ja, Jungs, co to będzie für euch und für uns in diesem Krieg!". Wir waren beschämt und hörten auf, die Polen zu necken.