"Ich
muss eingestehen, dass in mir niemals jenes Gefühl der Liebe zu etwas Großem
und Grenzenlosem aufgekeimt ist, welches man gewöhnlich als Patriotismus
bezeichnet, und das ein Engländer für England oder ein Franzose für
Frankreich empfindet. Nicht nur dass ich Russland niemals liebte, sondern sehr
viel daran wirkte auf mich sogar abstoßend. Auf der anderen Seite aber liebte
ich Petersbourg mit jener großen besonderen Liebe, die ein Engländer für
London oder ein Franzose für Paris empfindet. Doch kann ich sagen, dass für
mich die Beziehung von Petersbourg zu Russland nie der von London zu England
glich (es war Moskau, das immer eine derartige Beziehung der Hauptstadt zu
seinem Land repräsentierte), sondern der Beziehung von London zu Indien. Darum
existierte für mich nur die eine Devise: Petersburg ist über alles!"
Vergessene Europäer einer vergessenen europäischen Stadt Sanct-Petersbourg wurde 1703 vom ersten russischen Kaiser, Peter I Romanow, in der Mündung des Flusses Neva in Ingermanland (Ingria, Ingrien) – dem finno-ugrischen (baltisch-finnischen) Land der Inkeris und Woten, gegründet. Ingermanland war ein nicht weniger bekannter Name als Kurland oder Livland seit dem Expansionsbeginn der Nachbarstaaten des Baltikums. Das 13. –15. Jahrhundert war eine Periode des Kampfes zwischen katholischen und orthodoxen Staaten mit dem Ziel der Eroberung der baltischen und finno-ugrischen Völker in der Ostseeregion und der Absicht, sie ihrer Länder zu berauben. Diese Länder waren: das Baltische Preußen (Prußa) im Süden, Litauen, Kurland, Latgala, Livland, Estland, Ingermanland und Finn-Karelien im Norden. Mit aller Brutalität unterwarfen die Brüder des Kreuzes zusammen mit den Brüdern des Schwerts Prußa, Kurland, Latgala und Livland. Während Estland Dänemark zum Opfer fiel, startete Nowgorod seinen Angriff auf Ingermanland und Karelien. Nur Litauen entging der Versklavung infolge seines Zusammenschlusses mit Polen und den russischen Herzogtümern, und garantierte dadurch die künftige Freiheit auch für Lettland und Estland. Nichtsdestoweniger verfügte Nowgorod nicht über genügend militärische Stärke, um Ingermanland und Karelien zu unterwerfen und sich als Staatsteile einzuverleiben. Bis zum schwedischen Angriff im 17. Jh. existierte dort niemals ein realer russischer Staat, sondern es waren nur militärische Standorte und Handelsniederlassungen vorhanden, die Tribut forderten, erst für Nowgorod, später (nach 1478) – für die Moskauer Metropole. Nicht zu vergessen, dass Nowgorod selbst eine Gründung der Wikinger auf finno-ugrischem Boden war – es wurde von einer orthodoxen Wikinger Dynastie beherrscht, deren "Druschinen" Tribut kassierten von ihren unterworfenen und vereinigten russischen und finno-ugrischen Stämmen. Sogar der Name Rus ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht von russischer Herkunft. Die Schweden ihrerseits unterwarfen die Region auf ähnliche Weise. Sie begannen das Luthertum in Ingermanland und Finn-Karelien zu verbreiten, indem sie lutherische Finnen in Ingermanland ansiedelten, das sie Ingermanland nannten. Dennoch führte dies nicht zu einer finnischen Assimilation der Urbewohner, der Inkeris (russisch Ischora) und der Woten (Woschane) in der Region. Die letzteren bewahrten ihren eigenen Namen, ihre Sprache und Volkskultur sogar bis zur Zeit des kommunistischen Völkermords. Die natürliche Grenze zwischen den Finn-Kareliern und Inkeri-Woten war der Fluss Neva. Dieser Name bedeutet 'Sumpf' in allen baltischen finno-ugrischen Sprachen. Bis zum 19. Jh. gab es absolut keine russischen Hydronyme (Gewässernamen) und sehr wenige russische Toponyme (Ortsbezeichnungen) in dieser Region. Einen der wunderbarsten kaiserlichen Parks der Region gibt es in Paullust (russ. Paulowsk). Dieser Park wurde an den Ufern des Vena-Joki angelegt, eines Flusses, dessen Name in neuerem Baltisch-Finnisch 'russischer Fluss' bedeutet. Heute ist er unter seiner russischen Übersetzung Slawjanka bekannt. Vena-Joki seinerseits mündet in die Neva ganz in der Nähe des Flusses Inkere (Ischora). Warum war dieser Fluss "russisch"? Das ist das Kerngeheimnis des Landes, das sogar den Schlüssel für den Namen der Finnen liefert. Es ist klar, dass die Venen ein lokaler baltisch-finnischer Stamm waren, der auf beiden Seiten des Flusses lebte. Für die lutherische Bevölkerung nördlich der Venen waren letztere ein Grenzgebiet von gemischt lutherisch-orthodoxer baltisch-finnischer Bevölkerung. Natürlich galt für die Lutheraner im Norden die südliche orthodoxe Bevölkerung als "Russen". Auf diese Weise verbreitete sich, herrührend vom Namen dieses Flusses, die Bezeichnung Vena 'russisch' unter den lutherischen baltisch-finnischen Stämmen (vgl. sogar im Estnischen). Andererseits waren die Venen für die, die südlich von ihnen lebten, ein Grenzstamm, mit dem ein Territorium mit rein lutherischer Bevölkerung im Stromgebiet der Neva begann. Daher erhielt dieser Name allmählich für die orthodoxe Bevölkerung die Bedeutung von "Finnen" und verbreitete sich später, zuerst unter den Russen, in der Form Ven > Fenn / Finne, und danach aus dem Russischen weiter auf der ganzen Welt! Was die Finnen anbelangt, bezeichnen sie sich selbst als Suomi.
Nachdem Peter der Große das Land erobert und die Schweden vertrieben hatte, begann er die lokale Bevölkerung wie Sklaven zu behandeln. Sie wurden massenweise Opfer bei der Errichtung von Sanct-Petersbourg auf Sumpfgebiet und wurden sogar als Sklaven an die Türken verkauft. Tatsächlich war ihr Schicksal sogar grausamer als das der alten Prußen, die wegen ihrer heroischen Kriege gegen den Deutschen Orden bekannt worden sind. Die Inkeris und die Woten kämpften nicht, aber ihr Schicksal erwies sich als dasselbe: fast vollständige Vernichtung im 20. Jahrhundert. Dennoch, ähnlich den Deutschen, behielten die Russen den schwedischen Namen des Landes, Ingermanland, bis zur bolschewikischen Revolution von 1917 bei. Das war die einzige Entsprechung bei der deutschen und der russischen Eroberung im Baltikum. Die Deutschen verbreiteten ihre nordeuropäische Kultur in Prußa, Kurland, Livland und in Latgala, während die Russen ihre russisch-orthodoxe moskowitische Kultur in Ingermanland nicht weitergaben. Fasziniert von der westlichen Kultur, begann der erste russische Kaiser spezifische Merkmale der russischen Kultur zu hassen und träumte davon, Russland in ein Westeuropa zu verwandeln. Dieses gelang ihm nur in dem eroberten baltisch-finnischen Land, genau innerhalb der Grenzen seiner Hauptstadt. Bis zum 20. Jahrhundert lebte keine einheitlich russische Bevölkerung um Sanct-Petersbourg. Lokale "Tschuchna" waren Bauern, die die Hauptstadt mit Milch und anderen landwirtschaftlichen Produkten versorgten. Die Kutscher ("Isvostschiks") und niedereren Dienstboten waren auch Inkeris und Woten. Was professionelle Arbeiter (nicht Handwerker!) anbelangt, die formell die große Mehrheit der Bevölkerung bildeten, so waren das alles Russen, die von entlegenen Teilen Russlands als Saisonarbeiter nach Sanct-Petersbourg kamen, um nach einiger Zeit wieder nachhause zurückzukehren. Daher konnte sich keine lokale russische Kultur in Sanct-Petersbourg und Umgebung herausbilden. Was die Handwerker betrifft waren es vorwiegend Balten-Deutsche. Die Mittelschicht bestand meistens aus niedrigeren Adligen aus Russland, Deutschland, den baltischen Ländern und Polen, die sich den allgemeinen Normen westlichen Verhaltens und der lokalen westlichen Kultur verpflichtet fühlten. Sie vermischten sich schnell zu einer Art neuer lokaler Ethnie. Es war wirklich ein sehr merkwürdiges Konglomerat: eine Stadt mit lokalen holländischen, russischen, deutschen, französischen, englischen Mikro-Toponymen (Garach > Gorochowaja, Holliday > Golodai) und mit holländischen und finnisch-inkerischen Toponymen der Umgebung (vgl. Peterhof, Duderhof Seite an Seite mit Ropsha, Pulkovo etc.). Sogar der offizielle Name der Hauptstadt klang merkwürdig: es war ein lateinisch-holländisch-französisches Sanct-Peter(s)bourg. In der ersten Hälfte und Mitte des 19. Jhs. wurde die wichtigste Zeitung der Hauptstadt in russischer, deutscher und französischer Sprache herausgegeben. Die Angehörigen der Oberschicht waren entweder deutscher (vgl. die Familie Gottorp, die Romanow hieß, Benkendorff, Dieterichs), französischer und englischer Herkunft (Barclay de Tolly), sowie polnischen Ursprungs (Poniatowski, Zacharzewski), oder sie bildeten eine völlige Vermischung mit russischen (Moeller-Sakomelski), georgischen (Bagrationi) oder tatarischen (Jussupow) Adligen. Das einzige Verbindungsglied in diesem Gemisch war die orthodoxe Religion, deren Architekturformen und sogar ihre hierarchische Struktur auch westlich waren. Es war Kaiser Paul I, der versuchte, romantische Schritte in Richtung Katholizismus zu gehen, aber er wurde Opfer seiner riskanten Politik. Die größten Russen, die in diesem Theater auftraten, waren nur die letzten Gottorps: Alexander III und Nikolaus II. Sie begannen, russische Kirchenarchitektur in Sanct-Petersbourg einzuführen und Adlige auf russisch-volkstümliche Art zu kleiden, d.h. entgegengesetzt zu den Vorstellungen Peter des Großen zu handeln. Die Russen dankten ihnen auf eigene Manier: der letzte Russophile wurde wie ein Hund ermordet, gemeinsam mit seiner ganzen Familie, in einem Keller einer Stadt, welche den im Petersbourger Reich üblichen Namen trug: Jekaterinburg. Man muss zugeben: das war nicht ein russisches sondern ein Petersbourgisches
Reich. Sanct-Petersbourg diktierte seine Normen allen Ländern, die von den
Russen je erobert worden waren. Dies wird verständlich, wenn man die
Statistiken der sozialen Schichten von Sanct-Petersbourg betrachtet. Obgleich
Mitte des 19. Jhs. und sogar später die ethnischen Russen mehr als 80 % der
Stadtbevölkerung ausmachten, waren sie meist nur Saisonarbeiter, die fortwährend
aus dem fernen ethnischen Russland kamen, um Geld zu verdienen und schnellst möglich
in ihr Vaterland zurück zu kehren. Bei den verbleibenden wirklichen Einwohnern
lagen Ausbildung, Gerichtswesen, Kultur, Bau- und Ingenieurwesen bis zu 60 % in
Händen von Personen nicht-russischer Abstammung, während diejenigen russischer
Herkunft sich der Elitemehrheit anpassten und mit ihr zu verschmelzen suchten,
gemeinsam eine Art lokale Mikro-Ethnie bildend.
Diese Schichten der Bewohner Sankt-Petersbourgs machten nur 2.87 % (ungefähr 19150 Personen) seiner insgesamt 667200 Einwohner aus. Unter 355 Industrieeignern und Geschäftsleuten befanden sich anteilmäßig 12 % ausländische Bürger, 30 % russische Bürger nicht-russischer Herkunft und 58 % russischer Herkunft (vgl. ebd. 69-70). Im Jahr 1869 gab es ca. 85000
Handwerker in Sanct-Petersbourg. Sie waren nicht in der Lage, selbstständig
irgendwelche westlichen Lebensnormen zu diktieren, aber sie bestimmten die
Alltagsatmosphäre der Stadt. Nur 39 % von 188 Uhrmacherwerkstätten hatten
russische Betreiber (die anderen waren meist in jüdischer, deutscher und
finnischer Hand). Russisch waren nur 37 % aller 167 Tischlereien und
Drechslereien (der Rest wurde in der Hauptsache von Deutschen, Finnen und Juden
betrieben) und nur 34 % aller 380 Juwelierläden (die übrigen – waren
vorwiegend deutsch, finnisch und schwedisch). Franzosen wiesen mit Nähereibetrieben
einen Vorsprung auf, obgleich der Prozentsatz der russischen Nähwerkstätten in
dieser Sparte höher lag (61 % von 333 Nähereien für Fraubekleidung und 59 %
von 822 Nähereien für Männerbekleidung hatten russische Inhaber). Russisch
waren 53 % von 450 Bäckereien (der Rest war überwiegend schwedisch, deutsch
und jüdisch) (vgl. ebd. 65). Die Metropole zog nicht nur Repräsentanten
des westlichen Kulturtypus an, ethnische Russen bildeten keine Ausnahme. Das hier gesammelte Material zeigt den Prozess der allmählichen
Westernisation (Verwestlichung) von Menschen nicht-westeuropäischen Ursprungs,
die vor der bolschewikischen Revolution von 1917 wirkliche Petersbourger werden
wollten. Die ethno-kulturelle Situation beginnt sich erst Ende des 19.
Jhs., korrespondierend mit der Periode der wachsenden kapitalistischen
Industrialisierung, zu verändern. Massen von Weißrussen drängen in die
Hauptsstadt, anfangs als Fabrikarbeiter, und schaffen die Ausgangsbasis für die
künftige ethno-soziale Revolution. Nach der Bolschewikischen Revolution von 1917 begann der
entgegengesetzte Prozess: die De-Westernisation (Entwestlichung) brach an. 1917
bedeutete den Anfang vom Ende der westlichen Rastrelli-Czajkowski-Kultur im
russischen Staat und das Finale der lokalen Petersbourger Ethnie. Der Name der
Stadt wurde russifiziert zu Petrograd, als 1914 der Krieg gegen Deutschland
ausbrach. Nach 1917 begann die Vernichtung der Petersbourger und ihrer Kultur. Die letzten Petersbourger starben den Hungertod während der
Blockade von Leningrad 1941 –1943 (den Beweis liefert in unserem Material Koka von Wagner,
der während der Blockade in der Stadt verhungerte) oder wurden an ihre
Evakuierungsorte in Russland zerstreut. Die abschließende Ethno-Russifizierung
und Leningradisation war ein
Resultat erneuter Umsiedlung von ethnischen Russen nach dem Krieg. Durch das wachsende Interesse an den Ursprüngen der Petersbourger Vorfahren räumte man dem ersten Weg den Vorrang ein. Solches Interesse gab es niemals vor 1917, weil alle echten Petersbourger eine Mischung darstellten. Unser Material befasst sich mit Donat Godlewski, Enkel von Feodore Jekimow, welcher der erste war, der sich, sogar schon vor dem 2. Weltkrieg, für seine Abstammung interessierte. Er wählte die georgische Nationalität seiner Großmutter, obgleich ihm von den bolschewistischen Behörden verweigert wurde, diese in seinem Pass zu führen. Hingegen entschied sich ein Enkel von Feodores Bruder in den achtziger Jahren nach dem Krieg für Litauen. Gleichzeitig machte seine jüngere Kusine die ganze ethnische Russifizierung durch, hervorgerufen durch die Erziehung ihrer nicht-Petersbourgischen Mutter und der sowjetischen Schule. Sie kümmerte sich nicht um ihren Sohn aus erster Ehe, sondern ging mit ihrem zweiten Ehemann und ihrer beider kleinem Sohn nach Deutschland, und ließ ihren alten an Krebs sterbenden Vater zurück. Als es ihr nicht gelang, in Deutschland zu profitieren, kam sie zurück und verwickelte sich in einen Wohnungsstreit mit ihrem ersten Sohn. Schließlich sah es aus, als habe er Selbstmord begangen. Jetzt sind sie die einzigen Besitzer jener Wohnung. Solche Wildheit ist typisch für das ganze, ausgedehnte Russland von der Kamtschatka-Halbinsel bis Kaliningrad. Aus diesem Grund hatten die letzten Nachkommen der Petersbourger keine Intension, ethnische Russen zu werden. Heute gibt es kein Sanct-Petersbourg mehr. Leningrad, oder nennen Sie es Saint-Petersburg oder wie Sie wünschen, ist ein chaotischer Friedhof, in dem sich fremde Leute niedergelassen haben, die erfolgreich ein Netzwerk von disharmonischer Außenarchitektur schufen, die Innenarchitektur zerstörten und alle Treppen mit Urin bepinkelten, sogar im Zentrum. Entweihte, verunreinigte, profanierte, zerstörte Friedhöfe des alten Sanct-Petersbourg (man kann alte Marmorgrabsteine entdecken, von ihren Standorten gestohlen, abgekratzt die alten, häufig in gotischer Schrift eingemeißelten Namen, und auf der anderen Seite mit neuen Namen versehen), ähnlich den Friedhöfen in Königsberg, sind stumme Zeugen des historischen ethno-kulturellen Bruches. |